Iris Thürmer – Schicht um Schicht, Schrift um Schrift

Zahlen und Buchstaben, Texte und Bücher begleiten unseren Alltag. Sie begegnen uns überall, gesprochen oder gedruckt, als Fragment oder Schriftstück, und nicht zuletzt in Form von Bildern oder Graffiti im privaten wie im öffentlichen Raum.

Iris Thürmer setzt ihre Eindrücke in Gemälde und Gouachen mit locker strukturierten Flächen in satten Farbtönen um. Den oft monochrom in einem hellen Erdton gehaltenen Hintergrund bedeckt sie mit mehreren Schichten, die aus unterschiedlichen Zeichen bestehen: Sie benutzt nicht nur Zahlen, Buchstaben, Worte oder ganze Sätze als Elemente der Gestaltung, sondern auch Kringel, Wellenlinien oder andere kürzelhafte Schriftzeichen. Charakteristisch für die Handschrift der Künstlerin ist der spielerisch anmutende Richtungswechsel; sie dreht beim Malen Zahlen oder Buchstaben um 90 Grad, stellt sie auf den Kopf oder notiert sie spiegelverkehrt, und das auch innerhalb einer mehrstelligen Zahl oder eines Begriffes. Die Formgebung spielt in ihrem Schaffen eine gewichtigere Rolle als die Farbpalette.

Iris Thürmer strebt die Verdichtung von Zeichen an, ein komplexes Gefüge, das sich der Betrachter erarbeiten muss, wenn er die einzelnen Bestandteile “lesen” möchte. Inmitten des manchmal chaotisch erscheinenden Liniengewebes sind Worte oder Halbsätze als eine der zuerst angelegten Malschichten zu entdecken; ein unter schwarzen zeichenhaften Kürzeln erkennbarer Begriff wie “Plötzlich” verleiht dem Gemälde sogar seinen Titel. Diese fiktiven Texte oder imaginären Briefe entstehen spontan, wenn die Künstlerin die ihr wichtig erscheinenden oder im Gedächtnis haften gebliebenen Eindrücke eines Tages notiert. Auf diese Weise integriert sie ihre Gedanken und Assoziationen zu dem Erlebten bildhaft in Form von Worten in ihre Kompositionen.

Mit breitem Pinselstrich und lockerer Hand setzt sie konkrete und abstrakte Elemente neben- und übereinander. Oft arbeitet sie seriell und entwickelt aus Reihungen unregelmäßiger Formen klar, aber nicht starr gegliederte Strukturen. So entsteht Malschicht um Malschicht, nicht selten durch eine andere Farbe von der vorherigen unterschieden. Die unteren Schichten können unter den oberen verschwinden oder durchschimmern – unbestreitbar ist aber, dass sie als Basis erhalten bleiben. Hinter scheinbar zufälligen Strichgespinsten steht eine von Iris Thürmer bewusst gestaltete Ordnung, vorrangig erzielt durch den Einsatz waagrecht oder senkrecht verlaufender Linien, die den zeichenhaften Kürzeln Halt verleihen. Ihre Kompositionen aus organisch anmutenden Formen und einer oft von sanften Erdtönen dominierten Farbgebung zeichnen sich durch eine harmonische Wirkung aus.

Seit dem Jahr 2000 steht dabei das Quadrat im Mittelpunkt der bildnerischen Auseinandersetzung: Das kompakte und gleichmäßige, statisch erscheinende Format regt die Künstlerin zur Erprobung neuer und formal spannungsgeladener Lösungen an. Sie liebt es, die unterste Farbschicht aus zerriebenem, selbst angerührtem Lehm aus dem eigenen Garten oder der ländlichen Umgebung aufzutragen: Je nach Fundort weist der Lehm eine eher gelbliche oder rötliche Tönung und eine unterschiedlich starke Beimischung von Sandkörnern auf. Iris Thürmer bezieht deren reliefartige Struktur in die Wirkung des Bildes ein und trägt die aus dem Lehm gewonnene Erdfarbe in breiten Bahnen auf; so entsteht eine lebendige, warm und natürlich wirkende Folie für ihre Zeichengefüge.

Die Künstlerin sucht die Konzentration im Ausdruck. Aus diesem Grund beschränkt sie sich meist auf vier bis fünf, seltener zehn Malschichten, und wenige intensive Farben, die sie mit Pigmenten häufig selbst anrührt. Schwarz, eine breite Skala an Erdtönen, Blau, Grün, Gelb und ein markantes, sehr helles Rosa kehren auf vielen Darstellungen wieder. Einige Kompositionen bestehen nur aus sehr wenigen Kürzeln oder Symbolen in Rosa und Schwarz vor einem ockerfarbigen Hintergrund. Auf anderen Werken ist die Palette der Farben umfassender; gekurvte Formen in Gelb oder Rosa dienen häufig zur Belebung der erdigen Skala oder als markantes Gegengewicht zu einem kompakten, dunkel wirkenden Gefüge aus unzähligen Zeichen. Konsequent verzichtet die Künstlerin auf perspektivische Gestaltungsmittel. Je nach der formalen Dichte der einzelnen Bildschicht und der Abfolge der Farben gewinnt dennoch der Betrachtende die Illusion von Raumtiefe.

Die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten ist mannigfaltig und sehr individuell. Die Arbeiten von Iris Thürmer besitzen einerseits einen hohen Grad an Abstraktion und verzichten auf jegliche erzählerische Figuration, andererseits lassen die konkreten Elemente wie Zahlen oder Satzfragmente im Kopf des Betrachters Geschichten entstehen. Vor allem Bruchstücke von schwer entzifferbaren Worten regen die Phantasie an und rufen zahlreiche Assoziationen hervor. Dabei geht es der Künstlerin nicht um die Lesbarkeit von Schriften, sondern um das Freilegen von Schichten.

Iris Thürmer sieht in ihren Gestaltungsprinzipien Parallelen zum Leben eines Menschen, in dessen Gedächtnis sich auch zahlreiche Erinnerungen überlagern, aber die Erlebnisse als Grundlage der Erfahrungen niemals verloren gehen. Sämtliche Phasen einer Biographie stellen eine Synthese aus Vergangenheit und Gegenwart dar. Der eigene Erfahrungs- und Wissenshorizont beeinflusst die Wahrnehmung ebenso wie die augenblickliche Stimmung.

Die Vielfalt der Ausdrucksformen von Iris Thürmer mit den meist offenen Kompositionen aus gerundeten Formen und fließenden Linien schenkt dem Betrachter immer wieder neue Seherlebnisse, bei denen seine eigene Vorstellungskraft eine große Rolle spielt. Die Gemälde und Gouachen von Iris Thürmer, die oft an ein liniertes und von Hand beschriebenes Blatt Papier oder eine Zeitungsseite mit partiell verwitterten oder überdruckten Schriften denken lassen, wecken die Entdeckerlust und Neugier des Betrachters, der die verborgenen Symbole enträtseln möchte. Welche geheimen Botschaften verbergen sich unter den Schichten aus mehr oder weniger abstrahierten Schriftzeichen? Abblätternde Hauswände oder abgerissene Plakate an einer Litfaßsäule üben einen ähnlich faszinierenden Reiz aus.

Das gesprochene oder geschriebene Wort ist die Grundlage der menschlichen Kommunikation. Iris Thürmer teilt sich ihrer Umgebung vor allem über ihre komplexen Bilder – gemalte Aussagen – mit, in den vergangenen zwei Jahren meist durch Schriftbilder, die wie eine Art Tagebuch wirken. Sie vereint schlichte Zeichen und Farbformen in ästhetischen Formationen und verleiht damit dem einzelnen gestalterischen Element eine hohe Poesie und Magie. Symbolhafte Zeichen und die Entwicklung von Sprachen können als Urbedürfnis des Menschen betrachtet werden. Ägyptische Papyri mit Hieroglyphen oder die umlaufend beschriebene Trajanssäule in Rom, chinesische Schriftrollen oder die strengen seriellen Arbeiten von Hanne Darboven legen beispielhaft davon Zeugnis ab. Die Werke von Iris Thürmer fügen diesen Bildwelten eine neue und markante Variante aus geheimnisvoll verknappten Kürzeln hinzu.

© Dr. Merete Cobarg, Neubrandenburg im August 2001

 
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